Endlich wieder internationales Theater!

Über das Programm der Lessingtage, die im Januar 2022 am Thalia Theater stattfinden.

 

von Heinrich Oehmsen

 

Wien, Avignon, Manchester, Warschau, Vilnius. "Ende Juni habe ich mich wieder rausgetraut und bin zu den Wiener Festwochen gefahren", erzählt Nora Hertlein. Endlich konnte sie wieder reisen und sich bei den großen Festivals und an verschiedenen Bühnen in ganz Europa ein genaues Bild von den Produktionen machen, die sich für die Lessingtage 2022 eignen. Während der Pandemie war die Kuratorin, im Thalia Theater für das internationale Programm zuständig und damit auch für die Lessingtage auf Videomaterial angewiesen, dass ihr von den Bühnen nach Hamburg geschickt wurde. Im vergangenen Herbst hatte sie noch die Hoffnung, dass es auch 2021 Lessingtage mit Präsenz-Aufführungen geben würde, doch im November schloss sich das kurze Zeitfenster wieder, das immerhin ein paar Premieren möglich machte. Für den Januar 2022 ist Hertlein guten Mutes, dass ihr zusammengestelltes Programm im großen Haus am Alstertor und im Thalia Gaußstraße über die Bühnen gehen wird.

Barocco © Ira Polyarnaya 

Ein Schwerpunkt zeigt die Arbeit des mit einem Ausreiseverbot belegten Regisseurs Kirill Serebrennikov. Seine Theatertruppe vom Gogol Center Moskau kommt mit Barocco zu den Lessingtagen. "Es ist ein überbordender Theaterabend, der richtig in die Vollen greift", äußert sich Hertlein enthusiastisch über das Stück, das einen starken musikalischen Schwerpunkt hat. "Das Stück kommt ohne lange Textpassagen aus und eignet sich deshalb sehr gut für ein internationales Publikum. Es wird viel barocke Musik benutzt, die mit Pop vermischt wird. Das Thema ist wie so häufig bei Serebrennikov der protestierende Künstler bzw. die protestierende Persönlichkeit. Es ist für mich ein Memento Mori, ein Stück, bei dem noch mal auf dem Vulkan getanzt wird."

 

Thalia-Premieren von den internationalen Regisseuren Kirill Serebrennikov und Toshiki Okada

 

Neben den Gastspielen bringt das Thalia Theater zu den Lessingtagen, die unter dem Motto Celebration of Life stehen, auch zwei eigene Premieren heraus. Eine davon wird ebenfalls Serebrennikov erarbeiten und zwar Der schwarze Mönch. Diese Uraufführung von Serebrennikov nach Anton Tschechow wird eine deutsch-russische Koproduktion mit Akteuren aus dem Moskauer Ensemble und Schauspieler*innen vom Thalia. Im November wird bereits eine Gruppe für Vorproben nach Moskau reisen, die Endproben finden dann in Hamburg statt. "Ob Kirill Serebrennikov nach Hamburg kommen kann, wissen wir allerdings nicht", so Hertlein. Auch die zweite Premiere liegt in den Händen eines ausländischen Regisseurs. Toshiki Okada wird in der Gaußstraße Doughnuts auf die Bühne bringen. Der japanische Regisseur steht für ein sehr physisches und visuelles Theater mit einer eigenen Handschrift. Diese Produktion ist seine erste Theaterarbeit in Hamburg.

Gesellschaftskritische Haltungen sind Nora Hertlein bei der Auswahl der Stücke ebenfalls wichtig. "Wir haben zum Beispiel eine Oper aus Litauen eingeladen. Have A Good Day! beschäftigt sich mit den Verhältnissen der Arbeiterinnen beziehungsweise  Supermarkt-Kassiererinnen. Bei uns haben sie zwar während der Pandemie mehr Aufmerksamkeit bekommen, ihre Arbeitsbedingungen haben sich aber nicht verbessert.  Die Inszenierung hat jetzt eine neue Brisanz bekommen und ist ästhetisch spannend durch den Trick, das die Hochkulturform der Oper benutzt wird, um alltägliche Probleme am Arbeitsplatz zu zeigen", beschreibt Hertlein die Idee hinter Rugile Barziukaites Inszenierung. Auch Are we not drawn onward to new erA von der flämischen Kompanie Ontroerend Goed ist ein hochpolitisches Stück, das die Themen Turbokapitalismus, Umweltzerstörung und Fortschrittsglaube anpackt. Über Alexander Devriendts Arbeit möchte Hertlein nicht zu viel verraten: "Das Stück ist als Palindrom konzipiert. Zuerst wirkt es sehr seltsam, aber zum Ende werden alle Fragen beantwortet und alle Rätsel gelöst."

 

 

Die dänische Performance-Künstlerin Madame Nielsen zeigt  eine feministisch-ökofaschistische Show

 

Die Welterlöserin © Emilie Therese 

Die Lessingtage stehen seit vielen Jahren für außergewöhnliche Theaterabende, abseits des Stadttheater-Mainstreams. Ein Beispiel dafür ist in diesem Jahr eine Performance mit dem Titel Die Welterlöserin.  Den musikalischen Monolog hat Madame Nielsen konzipiert, eine Schauspielerin und Sängerin aus Dänemark, die sich mit Texten und Songs gegen die heutige Weltordnung auflehnt. Ihre Reise führt in verschiedene Brennpunkte der Welt - in den Irak, nach Afghanistan, in die Ukraine. "Sie stilisiert sich selbst als Welterlöserin und Marienfigur und zeigt uns einen Weg durch den Dschungel der Selbstwidersprüche, die verhindern, dass wir bessere Menschen werden.  Der Abend ist blasphemisch und ironisch, Madame Nielsen selbst nennt ihn eine feministisch-ökofaschistische Show'", so Hertlein.

Besonders glücklich ist die Kuratorin, dass sie das Kammerspiel Avremo ancora l’occasione di ball are insieme aus Italien zeigen kann, das übersetzt "Wir werden wieder miteinander tanzen können" heißt. Daria Deflorian und Antonio Tagliarini stellen darin die Frage nach der Vergänglichkeit von Künstlerexistenzen und das Altern von Tänzern und Schauspielern. Inspiriert wurden sie von Federico Fellins Film Ginger und Fred, in dem Giulietta Masina und Marcello Mastroianni ein alterndes Entertainer-Paar spielen, das für einen letzten gemeinsamen Auftritt vor die Kamera geholt wird. "Ungewöhnlich ist die Art des Erzählens. Es ist ein sehr leiser und feiner Abend", sagt Nora Hertlein über diesen Abend im Format eines Studiotheaters. Deflorian und Tagliarini sind in Italien, Frankreich und der Schweiz häufig auf Tournee, in Deutschland hat das Duo bisher noch nicht gastiert.

Fast ganz ohne Sprache kommt ein melancholisches Stück mit dem Titel The Sheep Song aus, das sich die vielfach ausgezeichnete belgische Truppe FC Bergman ausgedacht hat. Darin geht es um ein Schaf, das sich über seine Spezies erhebt und Anschluss an die Menschen finden will, letztlich aber doch scheitert. Das Schaf bleibt Außenseiter. Für die Produktion kommt eine Schafherde mit 15 Tieren ins Thalia Theater, natürlich unter strengen Tierschutzbedingungen. "Bei uns auf der Laderampe wird dazu ein Open-Air-Schafstall gebaut. Die Tiere haben zwei kurze Auftritte und werden dann mit dem Aufzug auf die Bühne gebracht", beschreibt Hertlein das ungewöhnliche Stück, das sie in diesem Jahr beim Festival in Avignon gesehen hat. FC Bergman gastierte bereits 2016 bei den Lessingtagen.

Das Leben des Vernon Subutex 1 © Thomas Aurin 

Auch zwei alte Bekannte sind in diesem Jahr bei den Lessingtagen 2022 dabei. Joachim Meyerhoff, sonst überwiegend am benachbarten Deutschen SchauSpielHaus Hamburg zu erleben, kommt mit Das Leben von Vernon Subutex 1 ans Thalia Theater. Den Roman der französischen Autorin Virginie Despentes über einen Plattenladenbesitzer, der in die Obdachlosigkeit abgleitet, hat Intendant Thomas Ostermeier an seiner Berliner Schaubühne inszeniert. "Diese Couchsurfing-Odyssee lässt sich als Stationendrama sehr gut auf die Bühne bringen. Wir freuen uns sehr, Joachim Meyerhoff in der Titelrolle präsentieren zu dürfen", sagt Hertlein. Und auch Navid Kermani, dem Thalia Theater sehr lange verbunden, stellt sein aktuelles Buch vor, das im Januar 2022 herauskommt. Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen heißt es. Darin stellt der Islamwissenschaftler und Philosoph Fragen nach Gott - ein idealer Gesprächsstoff für das Theaterfestival im Namen des großen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing.

 

Der Kartenvorverkauf für die Lessingtage hat begonnen. www.thalia-theater.de oder T. 040/32814-444

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