Theaterbesuch in Corona-Zeiten

 

Hamburgs Bühnen erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf

 

von Heinrich Oehmsen

 

Isabella Vertés-Schütter ist sichtlich bewegt, als sie das Publikum im Ernst Deutsch Theater vor der Premiere von Tyll begrüßt. Monatelanger Lockdown und Corona-Einschränkungen haben den Theaterbetrieb in Hamburg lahmgelegt, jetzt geht es wieder mit aller Macht los. Die großen und kleinen Bühnen starten im August und September mit einer Vielzahl von Premieren in die kommende Spielzeit, der „Lappen“, so die etwas rotzige Bezeichnung für den Theatervorhang, geht wieder hoch. Es scheint, als wäre Intendant*innen, Schauspieler*innen und den Teams in den Theatern eine große Last von den Schultern genommen. Endlich, endlich darf wieder gespielt werden. Das allerdings nur mit einer Platzauslastung von 25 bis 30 Prozent. Doch die Euphorie bei Vértes-Schütter und anderen Premierengästen ist trotz der Beschränkungen unübersehbar.

Sven Walser in "Tyll"
©
Timmo Schreiber 

Im Ernst Deutsch Theater ist jede zweite Stuhlreihe ausgebaut worden. Das bedeutet für jeden der 185 Zuschauer große Beinfreiheit, doch darauf würde man gern verzichten, denn das stark aufspielende Ensemble hätte ein volles Parkett verdient gehabt. Diese Vereinzelung wird wohl noch etwas andauern, denn ein Ende der Pandemie-bedingten Abstandsregeln ist nicht abzusehen. Immerhin dürfen Theatergänger*innen nebeneinandersitzen, wenn sie zu einer „Infektionsgemeinschaft“ gehören. Dieses furchtbare Wort bezeichnet Paare, Familien oder kleine Gruppen, die zusammenleben.

 

Einer, der sich so gar nicht mit der Vorstellung lückenhafter Säle anfreunden kann, ist Corny Littmann. Als „grausam“ bezeichnete der Impresario der Schmidt-Bühnen ausgebaute Stuhlreihen und vereinzelt stehende Sitze. Littmann hatte eine Idee, wie man einen Saal voll aussehen lassen und trotzdem den Corona-Beschränkungen entsprechen kann. Mit seinem Team gruppierte er die Sitze im Schmidts Tivoli neu und verwandelte das 640 Plätze fassende Theater in einen paradiesischen Garten, in den alles an Plastikpflanzen und Palmen hineingestellt wurde, was er in Ramschmärkten ergattern konnten. Das Konzept ging auf. Die Show-Oase am Spielbudenplatz war am 2. Juli das erste Theater, das in der Corona-Zeit wieder eine Show abgeliefert hat. Das Medien-Echo war überragend. In ganz Deutschland berichteten Zeitungen und Sender über diese einzigartige Show mit dem Titel Paradiso. Auch das Publikum reagierte euphorisch auf die Show. Die Nachfrage war so groß, dass zusätzliche Nachmittagsvorstellungen am Wochenende ins Programm genommen wurden.

Vom Virus nicht unterkriegen lassen wollten sich auch András Siebold und Amelie Deuflhard nicht. Seit März arbeiteten die Kampnagel-Leitungen an einer Corona-Version des jährlich stattfindenden Sommerfestivals. Zwar mussten sie auf Produktionen aus Übersee verzichten, doch Siebold und seine Kurator*innen haben es geschafft, ein spannendes dreiwöchiges Programm auf die Beine zu stellen, das noch bis zum 30. August läuft.  250 Zuschauer im großen Saal K6 entsprechen zwar auch nur 30 Prozent der Kapazität, doch Kampnagel verfügt über große Foyers und einen großen Garten, in dem dieses Jahr gleich drei Open-Air-Bühnen aufgebaut worden sind. Theater, Performance und Musik unter freiem Himmel, das ist ein aktueller Trend, weil draußen die feindlichen Aerosole vom Winde verweht werden. Das warme Sommerwetter mit seinen ungewohnten tropischen Nächten trägt maßgeblich zu der entspannten Stimmung bei. Die Theaterfabrik in Winterhude nutzt in diesem Jahr auch seinen großen Vorplatz vor dem Eingangsbereich, der auch denen offensteht, die kein Ticket für eine der Festivalveranstaltungen haben. DJs sorgen für Clubsounds, getanzt werden darf höchstens mit Abstand.

 

Oda Thormeyer in "Opening Night"
© Krafft Angerer 

Auch das Thalia Theater ist mit seiner ersten Premiere in der neuen Spielzeit nach draußen gegangen. Opening Night, nach einem Film von John Cassavetes, hat die junge Regisseurin Charlotte Sprenger unter freiem Himmel im Thalia-Hof in der Gaußstraße inszeniert. Die Zuschauer sitzen mit 1,50-Meter-Abstand auf Stühlen und verfolgen das Spiel per Kopfhörer. Das entlastet die Stimmbänder der fünf Schauspieler*innen, aber auch die an der Gaußstraße lebenden Nachbarn. Mehr als 100 Zuschauer*innen können dabei sein, so viel wie sonst in der Thalia-Garage. Eigentlich hätte die Opening Night bereits im April herauskommen sollen, doch Corona verhinderte diese und viele andere Premieren. Fünf Monate, nachdem im Thalia zum letzten Mal Schauspieler*innen leibhaftig vor Publikum agieren konnten, markiert das Stück über eine von Oda Thormeyer überragend gespielte egozentrische Film- und Theaterdiva den Auftakt zu einer mit Spannung erwarteten Saison an allen Hamburger Bühnen. In einer lauen Sommernacht Theater unter freiem Himmel erleben zu können, ist schon ein besonderes Erlebnis, hat aber wetterbedingte Grenzen.

Den Theaterfreuden stehen in den nächsten Wochen aufregende Premieren bevor (eine entsprechende Übersicht veröffentlichen wir regelmäßig in unserem Newsletter). Die Ensembles trotzen dem Virus und spielen mit ihrer ganzen Energie - auch wenn auf den Bühnen Abstandsregeln einzuhalten sind und man intime Kussszenen demnächst wohl kaum erleben wird. „The show must go on!“ – nur das zählt!